Der Isenheimer Altar in Colmar
Eine Quelle der Inspiration – nicht nur für Künstler
Ein Besuch Colmars ist immer lohnenswert, schon wegen der malerischen Altstadt mit dem sog. ´Klein-Venedig´ am Flüsschen Lauch, besonders aber an einem sonnigen Tag, selbst wenn dieser im kalten Januar liegt.
Dafür präsentierte das Unterlinden-Museum eine Sonderausstellung zu Otto Dix und seiner Rezeption des Isenheimer Altars.
Immer noch nicht ganz erforscht
Trotz vieler kunsthistorischer Untersuchungen geben sowohl der Künstler- Matthias Grünewald – wie auch sein Hauptwerk – der Isenheimer Altar – den Betrachtern weiterhin Rätsel auf.
Diese konnten natürlich auch die Mitglieder des Lorient-Kreises und des Französisch-Kurses bei ihrem Besuch in Colmar nicht lösen.
Aber sie konnten erfahren, in welchem Maße die einzelnen Flügel des großen Altarwerkes andere Künstler bis in unsere Gegenwart hinein beeinflusst haben.
Am Beispiel des Malers Otto Dix, dem das Unterlinden Museum in Colmar eine Sonderausstellung gewidmet hat, wurden viele Parallelen zwischen Grünewald und dem Werk des modernen Künstlers sichtbar gemacht.
Ergreifend und erschütternd, aufwühlend und anrührend
So wie Dix feststellte, dass er sich dem Einfluss Grünewalds nicht mehr entziehen konnte, nachdem er den Altar erst einmal gesehen hatte, erging es auch unserer Gruppe.
Selten ist die Kreuzigungsszene im Zentrum eines Altars so erschütternd dargestellt worden wie hier:
Das Haupt Christi von Dornen zerkratzt, im letzten Todeskampf vornüber geneigt und von unsäglichem Schmerz
gezeichnet, die langen Finger an den ausgestreckten Händen verdreht und erstarrt, der ausgemergelte Körper: die expressive Dramatik der Darstellung ergreift den Beschauer auch heute noch.
Unergründlich, fast unheimlich, wirken manche Szenen des Altars, ganz besonders die Monster und Bestien, die den heiligen Antonius in Versuchung führen und in ihrer Brutalität an Hieronymus Bosch erinnern.
Sind sie nicht auch unsere Chimären, unsere Alpträume, die Besitz von uns ergreifen wollen?
Für wen, so fragt man sich, soll die auf einem anderen Altarbild dargestellte Maria in ihrer innigen Zuwendung zum Jesuskind, für wen soll der von Licht der Auferstehung umflossene Christus in seiner Himmelfahrt Zeichen des Trostes und der Hoffnung sein? Für wen wurde dieses grandiose Altarwerk geschaffen?
Antoniter-Orden und Antonius-Feuer
Tatsächlich war es ein Auftragswerk des Antoniter-Ordens für die Kapelle des Krankenhauses, in dem vornehmlich Patienten behandelt wurden, die vom „Antoniusfeuer“ ergriffen waren.
„Antoniusfeuer“ nannte man diese vom Mutterkorn des Roggens ausgelöste Krankheit, weil sie wie Feuer brennende Schmerzen auslöste, gegen die der heilige Antonius Abhilfe oder sogar Heilung schaffen sollte.
Mit dieser Hoffnung wurden die Kranken vor den Altar gebracht, dessen wiederholte Betrachtung Trost und Heilung spenden sollte. Aber auch ein starker Glaube konnte den Tod in den meisten Fällen nicht verhindern.
Otto Dix - Der Altar aus heutiger Sicht
Heute könnte man die Entstehung des Altars als ein Stück mittelalterlicher Religiosität vor dem Hintergrund mangelnder medizinischer Kenntnisse abtun und das Werk unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachten. Könnte man. Doch das wäre zu kurz gedacht.
Dass der Altar mehr ist als ein grandioses Kunstwerk seiner Zeit, zeigen Künstler wie Otto Dix. Dix, der im ersten und zweiten Weltkrieg schreckliche Erfahrungen an der Front machte und 1945 mit 54 Jahren als Gefangener in Colmar-Logelbach landete, stellte (s)einen eigenen Bezug zum Altarwerk her.
Zum Glück durfte er, dessen künstlerisches Werk im Dritten Reich als entartet galt, wieder malen und er brachte dabei die entsetzlichen Gräuel des Krieges mit Blick auf den Kreuzestod Christi zum Ausdruck.
Das konnte man an vielen Bildern (Leihgaben aus aller Welt) feststellen. Dabei wusste er nach eigenen Angaben selbst nicht, ob er gläubig oder ein Atheist war.
Aber die traumatischen Erlebnisse, von denen er immer wieder heimgesucht wurde, verarbeitete er mit künstlerischen Mitteln. Oft wählte er dieselbe Bildkomposition wie Grünewald.
An die Stelle der leidenden christlichen Gestalten setzte er jedoch erschöpfte, vom Kriegserleben gezeichnete Soldaten vor verödeten Landschaften mit schwarzen Baumskeletten, deren dürre Zweige - wie bei Grünewald - drohend in den Himmel ragen.
Wie viele Maler seit Dürer zeichnete auch er einen ´ecce homo´, einen Schmerzensmann (bei ihm mit Stacheldraht), der seine eigenen Züge zu tragen scheint.
Morgenröte der Hoffnung
Und dennoch: Verwüstung und Zerstörung haben auch bei ihm nicht das letzte Wort, denn hinter den in Erstarrung versunkenen schutzlosen Soldaten hellt sich der schwarze Nachthimmel allmählich auf.
Am Bildrand leuchtet zaghaft die Morgenröte eines neuen Tages, ein Kontrast zwischen Dunkelheit und Licht, wie er auch bei Grünewald im wahrsten Sinne des Wortes zutage tritt.
Der Lichtschein steht letztlich als ein Symbol der Hoffnung für einen neuen Anfang in einer – in unserer – heillosen - Welt.
Mit diesem tröstlichen Gedanken traten die Teilnehmer/innen der Museumsfahrt – tief beeindruckt – die Heimreise an.
Ursula Päßler
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